Was die Politik versäumt, gelingt der Kunst:
Brücken zwischen Menschen zu bauen.

In den vergangenen Jahren haben sich Strom & Wasser, angeführt von ihrem Sänger, Songschreiber, Bassisten und Produzenten Heinz Ratz, vor allem mit deutschen Realitäten beschäftigt. Schon 2011 besuchte Ratz im Rahmen der Tour der 1000 Brücken viele hiesige Flüchtlingsunterkünfte und stellte mit Musikern und Vokalisten, die er dort kennenlernte, danach das mehrfach ausgezeichnete Projekt The Refugees zusammen. Zuvor wies der 1968 geborene Ratz durch spektakuläre Aktionen auf Obdachlosigkeit und Umweltverschmutzung hin; drei seiner Produktionen erhielten den Preis der deutschen Schallplattenkritik. Mit dem Doppel-Album Reykjavík beginnt nun ein neuer Zyklus. Es ist das erste einer geplanten Reihe, bei der Strom & Wasser mit Musikern aus verschiedenen europäischen Kulturmetropolen zusammen arbeiten. Auch bei diesem Projekt geht es Ratz um unvorhergesehene Begegnungen, frische Eindrücke und lebendigen Austausch

Warum nun der Blick nach Europa?

Während alle Welt über die Schulden Griechenlands und anderer südlicher Länder diskutierte, ärgerte sich Heinz Ratz, dass der ursprünglich humanistisch geprägte europäische Gedanke zunehmend in Finanzdiskussionen unterging. „Durch die vielen Gespräche mit Flüchtlingen während unseres letzten Projekts habe ich außerdem eine gewaltige Diskrepanz festgestellt zwischen dem, wie wir als Europäer von Europa denken und dem, wie Flüchtlinge Europa empfinden“, erklärt Ratz. Mit Reykjavík und den geplanten weiteren Produktionen in anderen Städten möchte er die Aufmerksamkeit wieder auf den kulturellen Reichtum des Kontinents lenken. Damit einher gehen natürlich Reflexionen über Heimat und Fremde, der Willen zur Überwindung von Grenzen und das Streben nach Freiheit, das Nachdenken über die eigene Identität und die Freude an einem produktiven Miteinander.

Vor allem aber möchte Ratz einen Raum für poetische Begegnung schaffen, ausprobieren, was entsteht, wenn man Strom & Wasser in fremde Länder wirft. Wie sehr unterscheiden sich gemeinsame Alben mit zunächst isländischen, später auch baskischen, russischen, albanischen Musikern? Welche Antworten findet man im hohen Norden, welche Geschichten im Süden? Wie wirken Mythen, Landschaften, Metropolen, Mentalitäten auf die Musik, wie sehr lässt sich deutsche Sprache mit anderen europäischen Sprachen vermischen?

„Anfangs wusste ich nichts über Island“, beschreibt Heinz Ratz die Ausgangslage vor seiner ersten Reise nach Reykjavík, „also schaute ich mir die Insel und viele Konzerte an, um danach Musiker*innen anzusprechen, von denen ich intuitiv glaubte, dass sie menschlich und musikalisch zu meiner Idee passen würden.“ Ratz’ Ziel war, dem Charakter Islands so nahe wie möglich zu kommen, ohne vollends auf das Terrain traditioneller Musik zu wechseln. So fand er in Egill Ólafsson einen Musiker und Autor, dessen Songs vielfach um die auf Island allgegenwärtige Mystik, um Geister, Heldensagen und die ewigen Kräfte der Natur kreisen. Seit bald vier Dekaden komponiert Ólafsson, Jahrgang 1953, für Film und Theater und tritt gleichzeitig als Schauspieler auf. Mit seiner Band Studmenn war er Mitte 2000 in Europa auf Tournee. Während der isländischen Schuldenkrise meldete sich Ólafsson auch politisch zu Wort, 2013 kandidierte er bei der Parlamentswahl für die Demokratische Partei. Die Singer/Songwriterin Ragga Gröndal, am 15. Dezember 1984 geboren, ist schon seit 2003 in der isländischen Szene präsent und in den letzten Jahren auch international aktiv. Rein statistisch besitzt jeder zehnte Isländer ein Gröndal-Album.

Vielfältige Musik. Vielfältige Musiker.

Ehemals Folk-orientiert, nähert sie sich auf ihren jüngeren Alben einem internationalen Pop-Sound; dennoch vermittelt ihr leuchtender Gesang eine Art isländischen Geist, selbst wenn man die von ihr gesungenen Texte nicht versteht. Raggas Bruder Haukur feiert Ende Dezember seinen 40. Geburtstag, lebte 2001-2003 in New York und hat als Klarinettist und Saxophonist mit Persönlichkeiten wie Chris Speed und David Krakauer gearbeitet. Auch der 39 Jahre alte Gitarrist und Komponist Hallvarður Ásgeirsson verbrachte eine Weile in New York; Drummer Jón Indriðason war 1998 Mitbegründer der Funkjazz-Band Jaguar. Guðmundur Pétursson gehört zu den gefragtesten und kreativsten Studiomusikern Islands; auf zahllosen Alben zeigt er eine beeindruckende Vielseitigkeit. Bassist Jóhann Ásmundsson gehörte zu den vier Gründern der Band Mezzoforte, in deren Studio Paradis nun auch Strom & Wasser Teile von Reykjavík aufnahmen.

Insgesamt knapp vier Monate verbrachte Heinz Ratz auf der Insel, „die bizarre Vulkan-Landschaft und das Lebensgefühl dort haben auch bei mir tiefe Eindrücke hinterlassen. Deswegen sind meine Texte diesmal poetischer ausgefallen.“ Selbstverständlich verzichtet Ratz aber nicht völlig auf jene sarkastisch-bissigen Seitenhiebe, die von je her seine politische Haltung und sein unermüdliches Engagement unterstreichen.

Die vielfältige Musik des Albums ist weitgehend eine Gemeinschaftsarbeit von Strom & Wasser, Ólafsson, Petursson und den Gröndals, ergänzt durch Ideen weiterer Musiker, etwa dem österreichischen Perkussionisten Claudio Spieler. „Wir [Strom & Wasser] hatten zwei Songs vorkomponiert, ehe die Isländer mit ihren Skizzen ins Studio nach Hamburg kamen“, erzählt Heinz Ratz, „gemeinsam haben wir dann im Session-Prinzip alles weitere gemeinsam entwickelt.“ Die Aufnahmen in Hamburg entstanden in durchgängig gleicher Besetzung. „Ragga und Haukur sind natürlich sehr gut aufeinander eingespielt“, erzählt Ratz, „deswegen haben wir ihnen und Egill viel Platz gegeben, auch um eine gleichberechtigte Balance zwischen der isländischen und unserer Ästhetik zu kreieren.“ Bei den späteren Sessions in Reykjavík waren neben Gröndal, Ólafsson und Ratz auch Pianist Enno Dugnus und Gitarrist Ingo Hassenstein ständig dabei. Burkart Ruppaner und Jón Indriðason wechselten sich als Drummer ab, diverse isländische Instrumentalisten gaben sich die Studioklinken in die Hand.

Hier gibt’s die CD: Shop